Die Entdeckung der Langsamkeit

Bei der Uraufführung von Chantal Akermans SUD (FR/BE) 1999 in Cannes sollen etliche Leute den Kinosaal verlassen haben. Nicht nur das digitale Vorführformat irritierte das Publikum in den späten Neunzigern, es war die gesamte Machart des Film, die sich quer zu den Sehgewohnheiten stellte. ‚Da passiert ja überhaupt nichts‘, mögen die Irritierten dem Film vorgeworfen haben. Seither ist das Slow Cinema einer DER großen Gegenentwürfe zum handlungsgepeitschten Hollywoodkino geworden. Rhythmus, Gesten, die Beobachtung von Alltagsritualen und die daraus entstehende Poesie der Bilder erzählen hier mehr als die Handlung selbst. Filme mit reduzierter Handlung, wie Jim Jarmuschs DEAD MAN (US 1995) – der Johnny Depp als Dichter William Blake auf eine spirituelle Reise ausgerechnet durch den Wilden Westen führt, Der stille Bären-Gewinner KÖRPER UND SEELE (HU 2016, Ildikó Enyedi), mehr noch Cristi Puius DER TOD DES HERRN LAZARESCU (RO 2005) oder aber der goEast-Gewinner von 2017, REQUIEM FÜR MRS. J. (RS/BG 2017, R: Bojan Vuletić), und viele andere feiern die Entdeckung der Langsamkeit.

Hat das was mit dem allgegenwärtigen Bedürfnis nach Entschleunigung, nach Reduzierung auf das Wesentliche, zu tun? Möglich. Mit „Entspannung“ und „Auszeit“ definitiv nicht. Als „kontemplativ“ gilt das Slow Cinema, nachdenklich. Traum, Geisteszustände, Schlaf und Schlafes Bruder sind bei einigen Vertreter/innen zentrale Themen. Wen der Tod ereilt, der stirbt ebenfalls sehr, sehr langsam. Das geht nicht nur Herrn Lazarescu und Mrs. J. so (ersterer Film erzählt die erfolglose Krankenhaus-Odyssee eines Sterbenden, der zweite die drei Tage, bevor Mrs. J. ihrem Leben ein Ende machen will – beide, Achtung, mit viel schwarzem Humor).

Auch die Essenz von Béla Tarrs niederschmetterndem DAS TURINER PFERD (HU 2011) ist das Ende, das Ende von allem. In lediglich 29 kargen schwarzweiß-Einstellungen über zweieinhalb Stunden geht das bittere Leben einer Bauerntochter, ihres bettlägerigen Vaters und ihres einzigen Viehs, eines Ackergauls, in winterlicher Einöde zu Ende. Auch aus diesem Film sind bei seiner deutschen Premiere in Berlin etliche Leute geflüchtet. Meine Tante und ich hingegen hielten das Jammertal beharrlich wie der Gaul bis zum erlösenden Ende durch. Und staunten nicht schlecht, als der Film den Goldenen Bären abräumte. DAS TURINER PFERD ist für uns als running gag zum Maßstab für qualvolle Kinoerlebnisse geworden.

Bela Tárr jedenfalls ist einer jener herausstechenden Filmschaffenden, die die lange Dauer zum wesentlichen Gestaltungselement ihrer Filme erheben. Sie reduzieren die Handlung auf ein Minimum und scheinen mehr zu beobachten als zu erzählen.

Besonders originell geht damit ein weiterer Regisseur der Langsamkeit mit wachsendem Kultstatus um: der Philippiner Lav Diaz, der im Frühjahr in Frankfurt zu Gast war. Unter vier Stunden kommt man bei ihm nicht davon – und das sind die kurzen Werke. Und ja, auch seine Filme thematisieren Leid. Aber auf sehr poetische Art und Weise verwebt Diaz dabei das ganz Große mit dem ganz Kleinen. Seine Filme, wie EVOLUTION OF A FILIPINO FAMILY und FROM WHAT IS BEFORE, erzählen eine Art Nationalgeschichte von unten. Das epische Drama eines diktatorisch regierten Landes entwickelt sich aus Alltagsszenen und Sequenzen aus Seifenopern.

Die Ästhetik des Alltäglichen ist auch die ganz große Kunst von Chantal Akerman. Ihrem Werk widmet das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum noch bis Juli 2019 die Lecture & Film-Reihe „Die Erfinderin der Formen. Das Kino von Chantal Akerman“. Nach SUD geht es im Kino am heutigen Donnerstag, 13. Dezember, um 21:15 Uhr auf eine Filmreise ins Osteuropa kurz nach dem Mauerfall. Akermans Schnittmeisterin Claire Atherton berichtet vor dem Film um 20:15 über die Arbeit an D’EST: „Wir arbeiteten an einer Skulptur aus Raum und Zeit und suchten nach dem richtigen Rhythmus. Wir schnitten den Film so, wie Chantal ihn gefilmt hatte: unserer Intuition folgend, ohne den Vorgang verstehen zu wollen.“ Der Film wird am 19. Dezember um 18 Uhr wiederholt.

Titelbild: D’EST Aus dem Osten (Frankreich/Belgien 1993)

Von Jenni Ellwanger

Ältere Filmblogs